Von der Reformation zur modernen Elitenherrschaft: Oliver Zimmers "Prediger der Wahrheit"

Foto: Claudius Verlag
Foto: Claudius Verlag

19.03.2024

 

Die Reformatoren antworteten auf den Bauernkrieg und die Täuferbewegung, indem sie den Primat der Heiligen Schrift (sola scriptura) an ein herrschaftliches Prinzip zurückbanden. Als die Ernennung der Bibel zur alleinigen Richtschnur die gegebene Ordnung zu sprengen drohte, wurde ihre Auslegung erneut einem Milieu professioneller Prediger unterstellt. In „Prediger der Wahrheit. Von der Reformation zur modernen Eliteherrschaft“ analysiert Oliver Zimmer diese post-reformatorische Kultur der religiösen Wissensvermittlung und stellt heraus, warum sie etwas genuin Neues darstellt. Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin ist sie dynamisch und nicht statisch, egalisierend und nicht hierarchisch. Anders als die platonische Idee der Philosophenkönige enthält sie ein Versprechen der Mobilität: Wer die katechetisch vermittelten Glaubenslehren befolgt, kann selbst in den Predigerstand aufsteigen. Diese Kultur prägt unseren Moraldiskurs bis heute.

 

 

Oliver Zimmer hat an der Universität Zürich und an der London School of Economics and Political Science studiert (PhD 1999). Von 2005 bis 2021 war er Professor für Moderne Europäische Geschichte an der University of Oxford. Seit 2022 ist er Forschungsdirektor bei CREMA in Zürich.

Oliver Zimmer. Foto: Grün / Claudius Verlag
Oliver Zimmer. Foto: Grün / Claudius Verlag

 

 

Oliver Zimmer

Prediger der Wahrheit

Von der Reformation zur modernen Elitenherrschaft

104 Seiten, Klappenbroschur

€ 20,00

ISBN 978-3-532-62896-6

Claudius Verlag

 

 

Denkanstoß über Religion und Herrschaftssysteme seit der Reformation

„Wer begreifen möchte, warum die Idee, wonach den Wissenden und Weisen die Herrschaft im Staat zustehe, bis heute en vogue geblieben ist, kommt um das Reformationszeitalter nicht herum.“

 

 

Die Reformation lasse sich als Wegbereiter einer modernen Epistokratie begreifen, in der sich radikale und konservative, egalitäre und elitäre Elemente zu einer neuartigen Konstellation miteinander verbinden, konstatiert Oliver Zimmer in der Einleitung seines kürzlich im Claudius Verlag erschienenen Essays – um genau diesen Vorgang dann in  sieben Kapiteln nachzuvollziehen. Es gelingt ihm damit, ein neues Licht auf die Wissensgesellschaft an der Schwelle der Moderne wie auf unsere eigene Gegenwart zu werfen. Nach wie vor habe die Religion einen langen Atem, unabhängig davon, ob Religion noch sichtbar ausgeübt werde. Was im dritten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts mit der Verschiebung der religiösen Gewichte in Europa begann, hatte massive Auswirkungen auf die gesellschaftlichen Herrschaftssysteme. Nicht mehr der geweihte Kleriker, der zum Messvollzug beauftragt war, stand im Blickpunkt, sondern man suchte den gebildeten Prediger, der in der Lage war, den Glauben angemessen zu erklären. Ausgangspunkt dieses Wandels war St. Gallen unweit des Bodensees. Neben der Reduzierung der katholischen sieben auf zwei Sakramente, nämlich Taufe und Abendmahl, bildete die auf einen Bibeltext fokussierte Predigt nun den Kern des reformierten Gottesdienstes. Dreh- und Angelpunkt aller reformatorischen Strömungen war das Verhältnis der Menschen zur Heiligen Schrift. Und es kam die Frage auf, wem denn die Deutung des Evangeliums obliegen sollte. Diese Frage vermochte es, die gesellschaftliche und politische Landschaft in Europa tiefgreifend zu verändern. Denn letztlich ging es um die Deutungshoheit über die Wahrheit schlechthin. Die protestantische Reformation entfesselte vor rund sechshundert Jahren eine intellektuelle Bewegung – unter gütiger Beihilfe ihrer entschiedenen Advokaten wie ihrer erklärten Gegner -, die unsere Vorstellungen darüber, was Wahrheit, Wissen und legitime Herrschaft ausmache, bis heute prägt. Wie man sich diese Verbindungslinien konkret vorzustellen hat? Nun, in seinem siebten und letzten Kapitel gibt Oliver Zimmer in Form eines Ausblicks Antworten, die er als Denkanstoß verstanden wissen will. Diesen Denkanstoß illustriert er anhand zweier auf Europa bezogene Beispiele: einmal die Meinungs- und Pressefreiheit im Verfassungsstaat und zum Zweiten die Praxis der modernen Demokratie. Doch am Anfang war die Reformation! – Ein lesenswertes Buch, das die reformatorischen Auswirkungen aus heutiger Sicht interpretiert und gerade an den zwei ausgeführten Beispielen nachvollziehbar werden lässt. – Gert Holle, Herausgeber und leitender Redakteur von „WIR IM NETZ – Kultur und Glaube Aktuell“ / www.wirimnetz.net  


Autor: Claudius Verlag; zusammengestellt von Gert Holle - 19.03.2024