Postkoloniale Erinnerungspraxis in der Sakralen Globalisierung am Beispiel der zeitgenössischen Umbanda im deutschsprachigen Europa

TRAUMA ALS WISSENSARCHIV

Foto: Büchner
Foto: Büchner

Bei der brasilianischen Religion Umbanda – die sich im Bundesstaat von Rio de Janeiro am Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage von afrikanischen, indigenen und europäischen Religionen bildete – steht die Kommunikation mit Geistwesen im Zentrum, die an die brasilianische Geschichte erinnern.

 

Seit den 1940er Jahren ist sie weltweit verbreitet und ab ca. 2010 auch im Zuge der transatlantischen sakralen Globalisierung im deutschsprachigen Europa angesiedelt. Dennoch ist ihre Ausbreitung bislang kaum erforscht.

 

Inga Scharf da Silva schließt mit ihrer Arbeit eine Forschungslücke, indem sie sich auf der Grundlage einer über fünfjährigen ethnologischen Feldforschung mit der spirituellen Gemeinschaft des Ilê Axé Oxum Abalô (auch Terra Sagrada genannt) befasst, die ihr Mutterhaus in den Schweizer Bergen im Kanton Appenzell verortet und mit sieben Ablegern in Graz und Wien, Zürich und Bern, Berlin und Cumuruxatiba in Brasilien ein überregionales Netzwerk bildet.

Jedes Kapitel der Studie wird durch das Porträt einer Gottheit (Orixá) sowie Narrative aus den mythischen Überlieferungen gerahmt und zu Textpassagen von Oswald de Andrades ›Manifesto Antropófago‹ und Umberto Ecos ›Foucaultschem Pendel‹ in Bezug gesetzt. Dabei verdeutlicht die Autorin, wie die religiöse Praxis der Trance als Einverleibung von Bewusstseinsstrukturen zur Reflexion der Wissensproduktion ihrer Religion und darüber hinaus zu einer Dekolonialisierung des Denkens in Europa beitragen kann.

 

Die vorliegende Arbeit wurde im September 2019 im Fach Europäische Ethnologie als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Doctora philosophiae (Dr. phil.) an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin eingereicht und im August 2020 verteidigt und jeweils mit Summa cum Laude bewertet.

 

Dr. Inga Scharf da Silva ist Kulturanthropologin und Bildende Künstlerin. Nach ihrem Studium der Ethnologie und Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin (FU) und in Brasilien an der Universität von Bahia (UFBA), der Universität von São Paulo (USP) und der Universität von Pernambuco (UFPE), arbeitet sie am Jüdischen Museum Berlin und als Bildende Künstlerin in ihrem Atelier eines Atelierhauses des Berufsverbandes Bildender Künstler (BBK). Von 2014–2019 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin, wofür sie von PROMI der Universität zu Köln gefördert wurde. Zurzeit bereitet sie sich auf ihre Postdoc-Forschung über spirituelle Utopien vor und lehrt an der Humboldt Universität Berlin und der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

 

 

Inga Scharf da Silva

Trauma als Wissensarchiv

Postkoloniale Erinnerungspraxis in der Sakralen Globalisierung am Beispiel der zeitgenössischen Umbanda im deutschsprachigen Europa

518 Seiten, 15 × 22 cm, gebunden mit Fadenheftung und Leseband, reich bebildert, teilweise farbig

ISBN 978-3-96317-283-0

40 €

Büchner-Verlag, Marburg, erscheint am 27. April 2022

 

Die zeitgenössische Umbanda im deutschsprachrigen Raum – ein Beispiel für eine neue Religion und Einblicke und Anregungen für ein gegenseitiges Verstehen

Inga Scharf da Silva hat in ihrer von 2014 bis 2019 durchgeführten ethnologischen Feldforschung in dem religiösen Feld der Umbanda im deutschsprachrigen Europa „Heilung“ als zentrales Anliegen herausgestellt. Der Umgang bzw. die Bearbeitung von kollektiven Traumata sei in der Religion Umbanda, die sich erst kurze Zeit in Europa angesiedelt hat, von hoher Bedeutung. So deutet Inga Scharf da Silva nach Analyse der Medialität, Wahrnehmung und Erinnerung von Bildern, Menschen und durch deren Sinne und Körper, die spirituellen Entitäten der Caboclas und Caboclos als Wesen von indigenen Ahn*innen Amerikas sowie der Pretas Velhas und Pretos Velhos als Gesitwesen von versklavten Afrikaner*innen aus der brasilianischen Kolonialzeit in ihren Verkörperungen von mehr als menschlichem Bewusstsein als Erinnerung von Völkermord, Zerstörung und Unterdrückung der indigenen Bevölkerung Südamerikas und der versklavten Afrikaner*innen im Namen des europäischen Kolonialismus. Durch die Inkorporationen im umbandistischen Ritual, in ihrer Präsenz, ihren Gesprächen und ihrer Verinnerlichung in den Medien gedenken sie durch ihre Erzählungen an das kollektive Trauma. Dadurch werde der Erinnerung an die positiv und lebendig empfundene Anwesenheit der Entrechteten und Ermordeten ein Raum geöffnet. Es sei deren Ausdruck von Liebe, Güte und Kraft, der eine Transformation herbeiführt. So gehe es gerade nicht um Inszenierung von Leid und persönlich ausgetragenen Dramen zwischen Opfern und Täter*innen von kollektiven Traumen, wie es aufgrund der spirituellen Entitäten als personifizierte Ahnenkräfte zu vermuten wäre. Die bewusste Betonung der religiösen Transformation in der Umbanda sei nicht nur in der Beschreibung der umbandistischen spirituellen Entitäten, sondern auch in ihrer Geschichte angelegt. Die koloniale Geschichte Brasiliens auch für die Diskussion der transatlantisch gewanderten Umbanda als Folge der sakralen Globalisierung im deutschsprachrigen Europa heranzuziehen, gehe über ein historisches Interesse hinaus. Gerade eine Religion wie die Umbanda, in der es um als „exotisch“ und „fremd“ markierte Tranceerfahrungen gehe, sei von Bedeutung. Diese wandernden Religionen sollten, so folgert die Autorin, in den Diskursen der zeitgenössischen Wissenschaften nicht mehr als „fremd“ betrachtet werden, sondern als konstruktiver Teil eines sich wandelnden Europas. Gerade der säkulare Anspruch des Respekts vor vielfältigen Sichtweisen auf die Welt sei in der umbandistischen Religionspraxis integriert.

 

Inga Scharf da Silva ist es gelungen, einen übersichtlichen Querschnitt über grundlegende Themen anzulegen sowie eine angemessene Sprache dafür zu finden, zumal die Forschungslage über afroamerikanische Religionen, speziell die der Umbanda, zwar übersichtlich und ethnographisch vielschichtig ist, aber im Fall der Umbanda im deutschsprachrigen Europa zuvor wenig beschrieben wurde. So hat sie sich mit Bereichen des sozialen Lebens wie der Rolle von Religionen und spirituellen Gemeinschaften in den säkularen Gesellschaften Mitteleuropas, dem umbandistischen Menschenbild, materieller Kultur und durch sie vermittelte Stereotypisierungen, Wahrnehmung, Tanz und Trance, sowie Alter, Geschlecht und religiöse Sozialisation auseinandergesetzt. Durch die ethnographische Beschreibung und Darstellung hat sie einen fruchtbaren Nährboden für ihre argumentative Ausrichtung gelegt. Als äußerst interessant erscheint die in die Zukunft gerichtete Schlussfragestellung, wie die deutschsprachrige Gesellschaft in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland auf eine neue religiöse Bewegung wie die der Umbanda und ihrer sich weiter ausbreitenden Wirkung reagieren. Welche Vorurteile und Romantisierungen zeigen sich in der Außenwahrnehmung der Umbanda im mitteleuropäischen Raum? Wie werden die Heilanliegen interpretiert? Und wie gestaltet sich der interreligiöse Dialog über den rein gesellschaftlichen Austausch hinaus mit anderen Religionen und Denkrichtungen wie de Christentum, dem Islam, dem Buddhismus und dem Atheismus? Inga Scharf da Silva hofft auf eine Entwicklung eines dekolonialsierenden und naturfreundlichen Denkens, die die Chance gibt, einen Beitrag dazu zu leisten, die Traumen unserer Zeit zu überwinden. – „Trauma als Wissensarchiv“ ist ein sehr empfehlenswertes Buch für alle, die sich mit Fragen der religiösen Sozialisation und den gegenwärtigen Veränderungen auch innerhalb großer spiritueller Gemeinschaften auseinandersetzen. – Gert Holle, Herausgeber www.glaubeaktuell.net

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Autor: Büchner Verlag; zusammengestellt von Gert Holle - 21.04.2022