IM JOURNAL BEI WIR IM NETZ - POLITIK

Foto: Droemer
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Wieso tut sich Deutschland so schwer, über Macht zu sprechen? - Sophie Pornschlegel über die Zukunft der Demokratie

In den 2020er-Jahren wurde die globale Ordnung in einem Maße erschüttert, wie es seit dem Ende des Kalten Krieges undenkbar schien. Die politischen Herausforderungen auf nationaler und internationaler Ebene sind so zahlreich, dass konstruktive Lösungen aus dem Blick geraten. Auf die Aggressionen Russlands und Chinas findet der Westen keine langfristigen Antworten, die Klima-Krise verschärft sich, und die alte internationale Ordnung insgesamt weist immer mehr Risse auf.

Die Politikwissenschaftlerin und politische Analystin in Brüssel, Sophie Pornschlegel ist seit Jahren eine gefragte Expertin zum Thema internationale Ordnungen. Sie zeigt, dass die Ursachen dieser Unordnung tief liegen, nämlich in einer Krise der politischen Macht selbst. Um politische Lösungen für die multiplen Krisen zu finden, braucht es vor allem eines: ein neues Verständnis von Macht.

Sophie Pornschlegels These: Wer die Welt gestalten will, muss über Macht sprechen. Ohne Macht keine Stabilität. Auch nicht in Demokratien. Erst wenn sich Rechtsstaaten wieder bewusst werden, dass sie Macht aushandeln, kommunizieren und ausüben müssen, können sie sich gegen jene Feinde der Demokratie behaupten, die Macht mit Gewalt gleichsetzen.

In ihrem Plädoyer für ein neues Politikverständnis diskutiert sie Fragen wie z.B.

  • Mut zur Gestaltung erfordert Macht – aber wieso tut Deutschland sich so schwer, über Macht zu sprechen?
  • Warum wählen immer mehr Menschen autoritäre Führungspersönlichkeiten wie Donald Trump?
  • Warum treten Rechtspopulisten auf als »starke Männer«, denen die Verteidiger*innen der liberalen Ordnung scheinbar machtlos ausgesetzt sind?
  • Müssen sich Macht, Empathie und Fairness eigentlich aushebeln?
  • Warum gibt es kaum Konsequenzen für korruptes Handeln von Politiker*innen?
  • Wie können demokratisch legitimierte Staaten autokratischen Regimen machtvoll gegenübertreten, ohne sich selbst zu verleugnen?

Machtpolitik ist kein Relikt des 20. Jahrhunderts sondern fester Bestandteil unserer Gegenwart, das wurde spätestens mit der Rückkehr der konventionellen Kriegsführung auf den europäischen Kontinent deutlich. Nur mit klarem Blick dafür, was Macht ist, was sie leistet, wer sie hat, und wann sie gefährlich wird, kann die Zukunft gestaltet werden.

 

 

 

Foto: Andreas Sowa
Foto: Andreas Sowa

Sophie Pornschlegel ist eine deutsch-französische Politikwissenschaftlerin und arbeitet als Analystin in Brüssel, wo sie zu Europapolitik und der Zukunft der Demokratie forscht. Sie ist Policy Fellow beim Progressiven Zentrum in Berlin und war 2020/2021 Fellow der Karlspreis Academy. Ihre publizistischen Beiträge erscheinen bei Deutschlandfunk Kultur, ZEIT Online, FAS und Tagesspiegel. Sie ist häufiger Gast in TV- und Radio, u. a. bei ZDF Aspekte und Maybrit Illner, und kommentiert in internationalen Medien (Reuters, BBC und Guardian).

www.sophiepornschlegel.eu

LinkedIn

 

spornschlegel@gmail.com

Foto: Droemer
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Sophie Pornschlegel: Am Ende der gewohnten Ordnung - Warum wir Macht neu denken müssen

 

Macht hat einen schlechten Ruf - Machiavelli hat unser Machtverständnis dauerhaft geprägt. Macht wird in der Gesellschaft meist als individualistisch, zynisch und männlich verstanden. Das muss sich dringend ändern, wenn wir Antworten auf die zahlreichen Krisen finden wollen - von der Erosion der Demokratie bis hin zur Klimakrise. Dafür braucht es ein neues Machtverständnis, das Gestaltungsmacht, kollektive Macht und moralische Macht in den Mittelpunkt stellt.

 

Das Buch der Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel startet mit einer Gegenwartsanalyse, die die Krisen unserer Zeit unter die Lupe nimmt und mit der konzeptuellen Brille des Interregnums von Antonio Gramsci analysiert. Die multiplen Krisen zeigen, dass das Alte noch nicht gestorben, das Neue aber noch nicht geboren ist - es herrscht ein dauerhafter Ausnahmezustand.

Bisher geltende Versprechen - beispielsweise des Wohlstands, des Friedens und der Sicherheit in Europa - werden zunehmend in Frage gestellt. In diesem Interregnum zeichnen sich verschiedene “morbide Symptome” ab:

 

Unser Wirtschaftssystem ist nicht nachhaltig. Es trägt ganz grundlegend zur Klimakrise bei. Nach der Finanzkrise 2007/2008 wurde nahtlos mit den wirtschaftspolitischen Ideen weitergemacht, die bereits kläglich gescheitert waren. Wir nutzen beispielsweise immer noch das BIP, um unseren Wohlstand zu messen.

Die internationale Ordnung ist zu einer Unordnung geworden. In den internationalen Beziehungen wird weiter auf die multilaterale Ordnung gesetzt, die von allen Seiten missachtet wird - selbst von den Staaten, die dieser Ordnung zugrunde liegen.

 

Wir erleben eine Krise der Werte. Diese Krise hat verschiedene Erscheinungsformen: Sie drückt sich durch eine Krise der Rechtsstaatlichkeit in Europa und einem zunehmenden gesellschaftlichen Kulturkampf aus. Auch international verlieren bestimmte Werte - in erster Linie Menschenrechte - an Anziehungskraft.

 

Die Demokratie steht unter Druck. Politikverdrossenheit, Vertrauensverlust und Polarisierung sind nur einige Symptome einer politischen Ordnung, die zunehmend in Frage gestellt wird, und in der autoritäre und faschistische Kräfte Erfolge feiern.

Die Politik könnte auf viele dieser Krisen Antworten finden - doch die Wenigsten glauben daran, weil sie ein negatives Bild von politischer Macht haben. Die Politik leidet unter einem machiavellistischen, zynischen und individualistischen Machtverständnis.

Macht muss aber nicht zwangsläufig ein negatives Konzept sein, in dem es ausschließlich um Machterhalt oder -zuwachs geht. Macht kann ein Vehikel für gesellschaftlichen Wandel sein, das sich äußerst positiv auf die Gesellschaft und Demokratie auswirkt - beispielsweise, um die sozial-ökologische Transformation erfolgreich umzusetzen.

Um politische Macht wieder zu rehabilitieren, braucht es ein Machtverständnis, das wieder mit demokratischen Werten kompatibel ist. Dafür sollten folgende Aspekte stärker in den Mittelpunkt rücken:

 

Gestaltungsmacht: Macht dient nicht nur dem Selbstzweck, sondern kann Fortschritt vorantreiben, gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken und zur Entfaltung aller Bürger*innen beitragen.

 

Kollektive Macht: Macht muss nicht zwangsläufig transaktional sein, sondern kann zu einem gemeinsamen Machtzuwachs führen - bspw. mit Gewerkschaften, um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen, oder mit der EU, um sich gegen autokratische Regime zu wehren.

 

 

Moralische Macht: Macht und Moral schließen sich nicht automatisch aus, sofern zwischen Moral und Moralisierung unterschieden wird. Macht ohne Moral ist sinnlos; Moral ohne Macht ebenso.


Autorin: Droemer Verlag; zusammengestellt von Gert Holle - 7.11.2023